In Europa war der Separatismus in den vergangenen Monaten im Aufwind: eine einseitige Unabhängigkeitserklärung in Katalonien, anhaltende Spannungen zwischen Wallonen und Flamen in Belgien, unschlüssiges Schottland, Autonomiebestrebungen in der Lombardei und Venetien… Diese Ereignisse erinnern uns daran, dass nationale Grenzen nicht in Stein gemeisselt sind und sich im Laufe der Geschichte verändern.

Doppelmoral

Diese Autonomiebewegungen haben Gemeinsamkeiten, aber auch spezifische Eigenheiten. Es steht mir nicht an, über die Legitimität dieser Bestrebungen zu urteilen. Vielmehr möchte ich hier die von den Beobachtern verwendeten Analyseraster unter die Lupe nehmen. Es werden verschiedene Gründe angeführt, um uns die Komplexität der Probleme bewusst zu machen. Der „ethnische Faktor“ jedoch findet nirgends Erwähnung. Ist er zu „exotisch“ für Europa? Angenommen die gleichen Autonomieansprüche würden auf dem afrikanischen Kontinent geltend gemacht: Wie sähe die Analyse aus? Der „ethnische Faktor“ würde sicherlich rasch als Erklärungsfaktor identifiziert. Der Begriff „ethnischer Faktor“ findet keine universelle Verwendung. Ich habe noch nie einen Artikel gelesen, in welchem von der katalonischen, wallonischen, flämischen oder sogar jurassischen Ethnie die Rede war. Ist das Tabu?

Keine Vereinfachungen

Erklärungsversuche mittels des Faktors der „ethnischen Zugehörigkeit“ simplifizieren und verschleiern die eigentlichen Probleme. Nimmt man von diesen oberflächlichen Erklärungsversuchen Abstand, so wird rasch klar, dass die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und rechtlichen Fragen den Spannungen zugrunde liegen. Der „ethnische Faktor“ ist ein starres Konzept, das die Anpassungsfähigkeit der Menschen an ihr Lebensumfeld negiert. Eine methodische Analyse vermeidet derartige Fallstricke und lässt sich auf alle Weltregionen anwenden.

Die jüngste Radikalisierung der Bewegung zur Schaffung eines Staates namens „Ambazonie“ in den englischsprachigen Regionen Kameruns, die Unabhängigkeitsbewegung in der Casamance in Senegal oder die Autonomieträume des Chin-Staats in Myanmar konfrontieren uns mit heiklen Situationen. Wir müssen diese bei unseren Interventionen berücksichtigen. Wenn wir zu identifizieren vermögen, weshalb die Menschen einer Region eine Koexistenz infrage stellen, können wir bei unseren Einsätzen indirekt friedliche Lösungen unterstützen.

Xavier Mühlethaler

Übersetzt von Marina Bentele